Erstbegehung mit Peter Keller
Juni 2002: Resigniert sitzen wir in unserem Portaledge, einem Hängezelt, und beobachten die Lawinen, die im 3-Minuten-Takt keine 10 Meter von uns entfernt niederdonnern. Neben uns liegen Tüten mit gefriergetrocknetem Hühnchen in Curryrahm und Zigeunertopf. Zum Kochen sind wir zu erschöpft, also essen wir Schokoriegel und trinken Tee. Das Inferno erreicht um 16.00 Uhr seinen Höhepunkt. Schweigend warten wir die Nacht ab, bis die Wand verstummt. Am frühen Morgen blasen wir zum Rückzug, bevor die Sonne den Schnee wieder erwärmt und weitere Lawinen auslöst. Uns bleiben noch 6 Stunden für den Abstieg. Zusammen mit unseren 2 Haulbags, das sind 70kg schwere Materialsäcke, seilen wir uns zum Wandfuss ab. Wir planten, 14 Tage in der Wand zu verbringen und den Gipfel über eine neue Route zu erreichen. Mit dem vielen Neuschnee wurde das schlicht zu gefährlich.
September 2002: Endlich ein Schönwetterfenster. Ungeduldig stehen wir am Einstieg. Das Material wurde nochmals sortiert und ausgedünnt. So kommen wir gut voran und erreichen nach 2 Tagen das grosse Schneefeld, auf dem die Polen 1968 die Wand querten. Schwierigkeiten bis 7b in unbeschreiblich brüchigem Fels liegen hinter uns. Der Schnee der letzten Woche hat sich noch nicht verfestigt. Ständig prasseln kleine Eislawinen auf uns herunter. Ein Eisbrocken erwischt mich. Meine Oberlippe platzt auf wie Popcorn. Essen wird in den nächsten Tagen zu einer mühsamen Notwendigkeit. Wir beschliessen, unseren Biwakplatz ins Stollenloch zu verlegen. Ausserdem rüsten wir den nächsten, konstant überhängenden Felspfeiler mit einem Fixseil aus. So sind wir weitgehend vor Lawinen geschützt. In den nächsten Tagen sollte sich der Schnee setzen, damit wir im oberen Bereich zügig vorwärts kommen. Sobald wir den überhängenden Felsriegel überwunden haben, klettern wir im Alpinstil weiter.
Doch dieser Pfeiler erweist sich als harte Nuss. Nur dort, wo er am meisten überhängt, ist es objektiv sicher und der Fels trocken. Der Preis dafür: anhaltend anspruchsvolle Kletterei im Schwierigkeitsgrad 7c, die uns nur langsam an Höhe gewinnen lässt. Peter ist in Bestform und übernimmt die Führung. Wir haben eine klare Aufgabenteilung. Er führt im Fels, ich im Eis. Da wir sehr am Leben hängen, setzen wir zahlreiche Bohrhaken. Trotzdem sind viele schwierige Stellen zwingend zu klettern. Der Schwierigkeitsgrad 6c muss sturzfrei beherrscht werden, auch in brüchig vereistem Fels. Für diese 200 Meter benötigen wir 3 Tage. Dann gibt mir Peter vor Freude strahlend zu verstehen, dass ab jetzt Steigeisen und Pickel angesagt sind. Der Vorstieg liegt von nun an an mir. Die nächsten 7 Seillängen folgen einem fast senkrechten Eiscouloir. Erinnerungen an das Supercouloir in Chamonix werden wach.
Nach insgesamt 5 Tagen in der Wand setzen wir alles auf eine Karte. Nur mit dem nötigsten Material ausgerüstet, klettern wir los, um noch am selben Tag den Gipfelgrat zu erreichen. Doch davon sind wir momentan noch weit entfernt. Wühlend finde ich mich im extrem steilen Pulverschnee wieder. Ich suche zwischen senkrechten Schneebalkonen nach Möglichkeiten für einen Standplatz, finde aber oft weder Fels noch stabiles Eis. Überall nur tiefer Pulverschnee. Je einfacher die Wand nach oben wird, umso schlechter werden die Sicherungen. Die Wand ist lang, 1800 Höhenmeter um genau zu sein. Am Abend erreichen wir nach 44 Seillängen den Grat. Riesige Wächten versperren den Weg zum Gipfel. Gleichzeitig geht die Sonne langsam unter. Einen so herrlichen Sonnenuntergang hatten wir beide noch nie erlebt, doch zum Fotografieren reicht die Energie nicht mehr. Müde richten wir uns zum Biwakieren ein, sichern uns an unserem letzten Haken in der Hoffnung, am nächsten Morgen einen Weg zum Gipfel zu finden.
Mit leichter Verspätung erwachen wir gegen 9.00 Uhr. Erst als die Sonne unsere steifen Glieder aufgewärmt hat, verlassen wir den Schlafplatz. Frühstück gibt es keines, nur ein Energieriegel pro Person. Unsere Vorräte sind aufgebraucht. Doch schon eine Stunde später wird unser Traum wahr. Nachdem in der kalten Nacht der Schnee auf der Südseite gut durchgefroren war, konnten wir die Wächten umgehen und erreichen endlich den Gipfel. Kurz darauf torkeln wir erschöpft die Westflanke runter, denken an Philip Steulet, der hier im März mit einem Gast tödlich verunglückte, nachdem er die Heckmaierroute durchstieg. Wir sind auf der Hut und setzen alles daran, jetzt keinen Fehler zu machen. Nach langen sechs Stunden erreichen wir endlich die Station Eigergletscher, wo wir von den Angestellten der Jungfraubahn herzlich empfangen werden.