“Schöner Engel schrei, sing mir dein Liebeslied” IV 6-
900 Meter Wandhöhe, nur eine Stunde Zustieg von der Strasse und eine Stunde Anfahrt von Zürich – das gibt’s nicht? Doch, das gibt’s.
Der Clariden ist Skitourenfans längst ein Begriff, und seine Nordwand gilt als klassische Eistour. In einer langen, ausgesetzten Querung erreicht man auf rund 300 Metern Höhe den markanten Firnkessel, durch den man in moderat 45–50 Grad steilem Eis den Gipfelgrat erreicht.
Bereits 1977 erkannte der legendäre Eisspezialist Erich Vanis, dass der Direkteinstieg vom Teufelsfriedhof eine logische, fast zwingende Linie darstellt. „Die eisgepanzerten Risse im brüchigen Fels und die objektiven Gefahren vom Trichter darüber liessen uns diese Idee rasch beiseite schieben“, schrieb er 1980 in seinem Buch Im steilen Eis.
Als ich vor etwa zehn Jahren am gegenüberliegenden Glatten klettern war, fiel auch mir diese Linie ins Auge. Doch der damalige Leiter unserer Jugendgruppe versicherte mir, dass es sich um eine unlogische, unnötige Variante handle. Trotzdem liess mich der Gedanke nicht mehr los. Ich hatte nie verstanden, warum alle Alpinisten nach Chamonix fahren, um dort die letzten Quadratmeter Abenteuer zu suchen, während direkt vor unserer Haustüre noch solche Herausforderungen warten.
Trotzdem fehlte mir lange der Mut, die Tour ernsthaft anzugehen.
Diesen Winter wurde es dann konkret. Günter Wojta, mit dem ich klettern wollte, hatte es satt, stundenlang im Auto zu sitzen. Er wollte etwas in der Nähe – Eis musste es sein, am besten eine Nordwand mit kurzem Anmarsch. Es gab keine Alternativen.
Am 12. April 2003 standen wir am Einstieg. Die Wand war deutlich steiler als erwartet. Ob die markanten Rinnen aus Schnee oder Eis bestanden, war kaum zu erkennen. Der einzige Anhaltspunkt war eine freistehende Eissäule in der zweiten Seillänge.
Zaghaft übernahm ich die Führung – und merkte bald, dass ich mich mit nur acht Eisschrauben gehörig verschätzt hatte. Die Kletterei war von Beginn an senkrecht, unterbrochen von einem kleinen Überhang. Da ich zwei Schrauben für den Stand aufsparen wollte, blieben nur sechs Sicherungen auf 60 Metern. Ziemlich entnervt richtete ich unter der Eissäule einen Standplatz ein. Das vermeintlich bequeme Schneeband entpuppte sich als unbrauchbar – also Hängestand.
Wenn ich zwei Schrauben für den nächsten Stand benötigte, blieben noch vier für die kommenden 30 Meter senkrechtes Eis. Ich plädierte für Rückzug, auch Günter war nicht gerade kämpferisch gestimmt. Doch genau in diesem Moment kam die Sonne um die Ecke. Ein paar warme Strahlen reichten als Motivationsschub: Wenigstens versuchen wollte ich es.
Ein anhaltend steiles Gemisch aus Schnee und Eis brachte mich zum ersten Schneefeld oberhalb der Säule. Den Stand richtete ich an einer kurzen, abgebundenen Eisschraube ein und grub zusätzlich ein Schneeloch, um sicheren Halt zu finden. Ein Rückzug war jetzt kaum mehr möglich. Der Weiterweg versprach spannend zu bleiben. Vier weitere Seillängen forderten uns voll, doch inzwischen waren wir gut eingeklettert. Auch die nächste Schlüsselstelle – ein 85 Grad steiles Couloir, eine fast senkrechte Rinne mit nur vier Zentimetern Eis – meisterten wir ohne grössere Adrenalinschübe.
Im Firntrichter wurde es nochmals richtig unangenehm. Der Schnee lag stellenweise oberschenkeltief und versperrte uns den Ausstieg. Eine Traverse aus der Wand wäre zu lawinengefährlich gewesen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns durch die Nordwand hochzuwühlen.
Erschöpft wie nach einer grossen Westalpenwand erreichen wir schliesslich den Vorgipfel des Clariden. Der einfache Abstieg entlang der Normalroute bringt uns nach insgesamt 16 Stunden wieder zum Auto zurück.
Der Clariden-Direkteinstieg ist eine der anspruchsvollsten alpinen Eisrouten in den Zentralalpen. Bei den richtigen Verhältnissen bietet sie objektiv sichere, aber anhaltend fordernde Eiskletterei. Vom Gesamtanspruch her erinnert mich die Tour an die berühmte Droites-Nordwand in Chamonix – nur eben eine Stunde von Zürich entfernt.