Tourenbericht

Grönland – Tupilak Nordwand

Verfasst von
07.09.2004

Lektionen in Demut 1. Begehung

Es war einmal vor langer Zeit. Um mein bescheidenes Einkommen als Bergführer etwas aufzubessern, führte ich ein kleines Abbruchunternehmen. Wir rissen alles ein und nieder – von der Kellermauer bis zur Lagerhalle. Dabei fiel mir das entscheidende Magazin in die Hände: eine SAC-Clubzeitschrift aus dem Jahr 1964 mit einer Aufnahme der Tupilak-Nordwand auf dem Titel. Was für ein Berg!

Einige Leute, die schon einmal in der Gegend waren, gaben uns nützliche Tipps:

Eine Nordwand in Grönland? So was würde ich mir nie antun.“ – Stefan Glowacz
Wenn ihr Fixseile benötigt, überlässt ihr die Wand besser jemandem, der es sauber kann.“ – Al Powell

Powell selbst hat sich schon dreimal an der direkten Linie versucht. Er eröffnete zwar eine kombinierte Route in den Sattel weiter östlich, die eigentliche Wand wurde aber trotz zahlreicher Versuche auch von anderen Teams nie durchstiegen. Mit ein Grund dafür dürfte auch das Wetter sein, das an der Ostküste wesentlich rauer ist als auf der Westseite, wo aktuell am meisten geklettert wird. Auf 3 000 km Küstenlänge kommen gerade mal 3 000 Einwohner. Tendenz abnehmend. Wenn man bedenkt, dass als Alternative Madagaskar zur Wahl stand, fällt es schwer, unseren Entscheid zu verstehen.

Und nun sind wir da, zu viert, im Basecamp auf dem 16.Septembergletscher: Walter und Urs Odermatt, Günter Wojta und Klaus Fengler. Vier Abenteurer, die keine Ahnung hatten, auf was sie sich einlassen. Vor sieben Tagen tuckerten wir in dem kleinen Motorboot eines einheimischen Jägers zwischen dem Treibeis durch. Vor lauter Eis war kaum mehr Wasser zu sehen. Ein Eisbrecher schien mir passender als diese Nussschale. In nervenaufreibender Fahrt erreichten wir nach sechs Stunden die Gletschermündung. Wir sind die ersten Bergsteiger, die den Zustieg zum Schweizerland von dieser Seite her versuchen. Nach fünf Tagen Plackerei mit unseren Materialsäcken erreichen wir das Basecamp rund 5 km vom Einstieg entfernt.

Gestern sahen wir uns die Wand das erste Mal genauer an. Sie war höher, kälter, steiler, brüchiger und nässer, als ich es mir in meinen schlimmsten Träumen ausmalen konnte. Hier einen Freikletter-Bigwall durchziehen? Vergesst es. Klaus, der am meisten Expeditionserfahrung hat, überrascht mich mit seiner Aussage:

Alpinstil, in 30–40-stündiger Nonstop-Kletterei vom Basecamp zum Gipfel und wieder zurück.

Zuerst hoffte ich auf Ironie in seinem Tonfall. Dann wurde mir klar: Er meint es ernst. Ein Biwak in der Wand kam kaum in Frage. Fixseile waren keine Option. So saß ich nun im Camp auf dem gepackten Rucksack und wartete angespannt auf besseres Wetter.

Der Wecker klingelt um Mitternacht. Wortlos stehe ich auf, beginne Wasser zu kochen. Es ist bewölkt. Egal, das Wetter ändert hier ohnehin ständig. Um 1 Uhr starten wir. Wegen der Wolken ist der Schnee nicht gefroren und führt zu zwei Spaltenstürzen in der ersten halben Stunde. Ich fluche. Nach 2,5 Stunden erreichen wir endlich den Wandfuss. Ein letzter Blick durchs Fernglas. Noch immer keine Ahnung, wie wir den senkrechten, glatten Abschnitt im 1. Drittel überwinden sollen. Um 5 Uhr überwinde ich den Bergschrund. Die ersten zwei Seillängen im Eis gehen zügig. Danach wird die Wand felsig und kompakt. Ich finde einen alten Haken. Vermutlich stammt er von einem früheren Versuch eines englischen Teams.

Durch brüchige Risse klettere ich weiter. Obwohl das Gelände anhaltend den 5. und 6. Schwierigkeitsgrad verlangt, kommen wir zügig voran. Ich führe, Klaus und Günter kommen an den Steigklemmen am fixierten Seil nach. So geht es am schnellsten. Und Zeit ist entscheidend in einer 1 000 m hohen Wand. Biwakmaterial haben wir nicht dabei. Es wird ohnehin nur 4 Stunden dunkel in der Nacht. Wir befinden uns direkt am Polarkreis. Gemäss unserem Zeitplan müssten wir um 14.00 Uhr auf dem Gipfel stehen.

Erstaunlich rasch erreichen wir den glatten Wandteil im 1. Drittel, vermutlich die Schlüsselstelle. Klaus übernimmt die Führung. Ich bin nicht unglücklich darüber. Habe meinen Rhythmus noch nicht gefunden. Nach zwei anspruchsvollen Seillängen im 6. und 7. Schwierigkeitsgrad mit schlecht gesicherten Reibungspassagen wechseln wir wieder. Durch brüchige Risse klettere ich weiter. Die Wand ist schwieriger als erwartet. Und vor allem viel länger. Eine Stelle im Schwierigkeitsgrad 6b liegt hinter mir. Doch jetzt folgt die Hölle aus makaber brüchigem Fels. Alles bewegt sich. Der Wechsel von Sand zu Stein ist fast übergangslos. Zur Sicherung schlage ich einen Haken in einen feinen Riss. Jeder Stein, den ich lostrete, fällt direkt auf Günter und Klaus. Äusserst angespannt kann ich diese Zone durchklettern, ohne Personenschaden anzurichten. Allerdings wurde ein Seil so stark beschädigt, dass es mit einem Knoten repariert werden musste. Nach meinen Berechnungen müssten wir jetzt schon über der Hälfte sein. Es folgt ein riesiges Verschneidungssystem, das unter das Gipfeleisfeld führt. Die Kletterei ist nicht mehr ganz so schwierig, vorwiegend 5. Grad, aber noch immer brüchig und jetzt auch noch nass wegen des Eisfeldes. Wir hätten es längst erreichen sollen, aber es kommt einfach nicht. Da wir die Wand nur von unten sahen, haben wir die perspektivische Verzerrung nicht berücksichtigt. Der obere Wandteil ist in Wirklichkeit viel länger als der untere. Ich klettere weiter. Mit einem 80 m Seil gehe ich fast doppelt so lange Seillängen wie in den Alpen üblich. Trotzdem nehmen diese Risse kein Ende. Das Wasser läuft herunter, meine Ärmel sind völlig durchnässt. Dass wir an Höhe gewinnen, merken wir vor allem daran, dass es immer mehr Schnee und Eis hat in der Wand. Ich kann mich nicht recht entscheiden, ob ich besser mit Steigeisen oder Kletterschuhen klettere.

Über uns sehen wir eine Kante. Ist das der Grat? Sind wir am Eisfeld vorbeigeklettert, in dem wir ein paralleles Risssystem benützten? Klaus ist sich dessen sicher. Nach weiteren 70 m die grosse Enttäuschung. Erst jetzt beginnt das Eisfeld. Nimmt das denn nie ein Ende? Nun verliert auch Klaus seine Begeisterung. Wir haben Durst. Uns wird klar, dass wir um ein Biwak nicht mehr herumkommen. Die Stimmung ist gedämpft. Mein Optimismus macht immer mehr der nackten Angst Platz. Wie sollen wir hier je wieder runterkommen? Das Eisfeld schätzte ich von unten auf 30 m. In Wirklichkeit ist es an die 100 m lang. 50–60 Grad steiles, pickelhartes Wassereis. Aus Gewichtsgründen habe ich nur drei Eisschrauben eingepackt: zwei brauche ich für die Standplätze, bleibt noch eine übrig, um 70 m Kletterstrecke abzusichern. Ich nehme mir immer wieder vor, besonders vorsichtig zu sein. Denke an meine Familie zu Hause. Am Ende des Eisfeldes erneute Enttäuschung. Anstelle eines Grates türmt sich die Wand noch einmal senkrecht auf. Der Fels ist hier anders, noch sandiger. Günter meldet Zweifel, Klaus sagt nichts. Wir müssen da hoch. So kurz vor dem Ziel aufhören kommt nicht in Frage. Meine Angst nimmt zwar zu, ist aber rational betrachtet unbegründet. Immer wieder finde ich Sicherungsmöglichkeiten. Noch haben wir alles unter Kontrolle. Es gelingt mir, alle 5–10 m eine Sicherung anzubringen. Sollte ein Griff ausbrechen, falle ich wenigstens nicht in den Standplatz. Doch auch ein 20 m Sturz wäre kein Spass. Meine Nerven sind zum Zerreissen gespannt. Mit gestrecktem Seil erreiche ich als erster Mensch den Vorgipfel. Es ist 21.00 Uhr. Seit 20 Stunden sind wir unterwegs. Ich fixiere die Seile, an denen die anderen nachkommen. Während des Wartens schlafe ich kurz ein. Zum Hauptgipfel sind es nur noch 40 m Höhenunterschied, aber aus instabilem, sprödem Eis. Meine Nerven sind am Ende. Der Gipfel ist mir mittlerweile völlig egal. Auch Günter und Klaus wollen nicht mehr weiter. Die Wand haben wir zwar durchstiegen, den Hauptgipfel erreichen wir jedoch nicht. Da werden die Tupilaks, welche in der Mythologie der Inuits böse Geister darstellen, frohlocken.

Um 22 Uhr beginnen wir mit dem Abseilen. Ich gehe voraus, richte alle 70 m mit mobilen Sicherungsgeräten einen Standplatz ein, um daran weiter abzuseilen. In der Zwischenzeit wurde es dunkel. Mit der Stirnlampe suche ich meinen Weg. Die Seile sind völlig kaputt. An zwei Stellen mit Knoten zusammengeflickt. Wir kommen nur langsam voran. Steinschlag ist ein Problem. Alle kämpfen gegen den Schlaf. Als es wieder hell wird, sind wir noch immer am Abseilen. Zweimal verklemmt sich das Seil, und ich muss ungesichert wieder hochklettern, um es zu lösen.

Nach 10 Stunden erreichen wir die unteren Eisfelder. Hier verklemmt sich das Seil derart, dass wir es mit dem Messer durchschneiden müssen. Es bleibt uns genau so viel übrig, wie wir benötigen, um über den Bergschrund abzuseilen. Unten wartet schon Walter, der uns beobachtet hat.

Durch nassen Schnee und zwischen Spalten durch geht es in weiteren 3 Stunden zurück ins Basecamp. Insgesamt waren wir 37 Stunden unterwegs. Am Nachmittag gibt es 4 Stunden Mittagsschlaf, dann Nachtessen.

Um 21.00 Uhr falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Meinen Traum habe ich soeben gelebt.

 

Impressionen